Schöpferische Grenzverletzung
oder: Kunst und Philosophische Praxis

Philosophische Praxis ist keine Technik, sondern eine Kunst. Deshalb ist ein Philosophischer Praktiker ein „Grenzgänger“ zwischen Kunst und Philosophie. „In der Peripherie liegt ein beachtliches epistemologisches Potential“ (Wilfried/Beozzo). Philosophische Praxis muss sich das beachtliche epistemologische Potential zu Nutze machen, das an der Peripherie von Kunst und Philosophie zu finden ist.

Ein Philosophischer Praktiker braucht den Mut zur „schöpferischen Grenzverletzung“. Denn nur, wenn er bereit ist, sich auf den „Grenzstreifen“ zu begeben und die Territorien jenseits der Grenze zu erforschen, die die Philosophie von der Kunst trennt, kann von ihm erkannt werden, was das Proprium der Philosophischen Praxis ist.

Die Antwort auf die Frage der Moderne: Was ist Kunst?, wie sie von Joseph Beuys gegeben wird, ist auch eine Antwort auf die Frage: Was ist Philosophische Praxis?. Denn für den Erweiterten Kunstbegriff von Joseph Beuys, für den jeder Mensch ein Künstler ist, ist es zuallererst die Produktivität des Denkens, die jeden Mensch zu einem Künstler macht. Es ist die Produktivität des Denkens, die einen Philosophischen Praktiker zu einem Philosophischen Praktiker macht. Das rückt nah an Gilles Deleuze und Félix Guattari heran: Denn Philosophie ist für Deleuze und Guattari, was „Denken“ für den Erweiterten Kunstbegriff von Joseph Beuys heißt: „die Kunst der Bildung, Erfindung, Herstellung von Begriffen“ (Deleuze/Guattari). Das Denken ist das Organ der „schöpferischen Grenzverletzung“.

Philosophische Praktiker sind Produzenten von Begriffen. Das Denken eines Philosophischen Praktikers ist produktiv, das die Kunst der Bildung, Erfindung und Herstellung von Begriffen beherrscht. Die Schöpfung oder Erschaffung von Begriffen, nicht die Betrachtung oder Kontemplation von Ideen oder Begriffen, die für sich einen überindividuellen Wahrheits- oder Geltungsanspruch reklamieren, ist das Proprium eines Philosophischen Praktikers. Darum entspricht aber auch das „dialogische Denken“ in einer Philosophischen Praxis nicht dem „sokratischen Gespräch“. Hier steht die Kontemplation einer subjektunabhängigen Wahrheit in der Mitte. Eine Philosophische Praxis ist aber auch nicht der Ort der Reflexion, „weil niemand Philosophie benötigt, um über irgend etwas zu reflektieren.“ (Deleuze/Guattari). Ebenso wenig ist sie aber auch der Ort der Kommunikation, weil das „kommunikative Handeln“ einen Konsens herstellen, aber keine Begriffe erschaffen will.

Der Besucher eines Philosophischen Praktikers, der wie der Philosophische Praktiker ein Künstler ist, ist dort zu einem Opfer seines „Begriffsschicksals“ (Schefczyk) geworden, wo die Produktivität seiner Begriffsbildung blockiert ist. Wenn es für Gerd B. Achenbach in der Beratung darum geht, „Denkblockaden (zu) lockern“, dann heißt dies: In der Philosophischen Praxis geht es darum, die Denkblockaden zu lockern, die das produktive Denken des Besuchers einer Philosophischen Praxis verhindern oder verkümmern ließen.

„Die Begriffe sind gleichsam die mannigfaltigen Wellen, die sich heben und senken, die Immanenzebene aber ist die eine Welle, von der sie auf- und abgewickelt werden.“ Ich übersetze diese Auskunft von Deleuze und Guattari so: Die Immanenzebene ist das Bewegungsprinzip der Begriffe, das der Sprache und dem Denken entspricht, die bei Joseph Beuys das Bewegungsprinzip der Begriffe sind, die die menschliche Seele in Bewegung setzen. Darum können Deleuze und Guattari sagen: „Die Bewegung ist nicht das Bild des Denkens, ohne nicht zugleich der Stoff des Seins zu sein.“

An der Peripherie von Philosophischer Praxis und dem Erweiterten Kunstbegriff von Joseph Beuys wird klar: Philosophische Praxis ist der Ort der Produktivität des Denkens oder der Bildung von Begriffen, die die Besucher einer Philosophischen Praxis „dephlegmatisiren“
(Novalis) oder die menschliche Seele wieder in Bewegung setzen. Dies kann natürlich nur ein Philosophischer Praktiker, der nicht nur Begriffe zur Verfügung hat, sondern auch die Immanenzebene der Begriffe kennt, die die menschliche Seele in Bewegung setzen. D.h.: Ein Philosophischer Praktiker kennt nicht nur „die Idee der Kraft“ (Stüttgen), sondern er kennt auch „die Kraft der Idee“ (Stüttgen).

Joseph Beuys reagiert mit seinem Erweiterten Kunstbegriff darauf, „dass wir Modernen den Begriff besitzen, aber die Immanenzebene aus dem Blick verloren haben“ (Deleuze/Guattari). Denn Beuys interessiert vor allem das Denken und die Sprache als Bewegungsprinzip der Begriffe.

Diesem Beuys’schen Denken und der Sprache entspricht bei Deleuze und Guattari der „Logos“, der für sie einem „über das Chaos gespannte(n) Sieb“ gleicht. Ich könnte auch sagen: Die Immanenzebene ist das Bewegungsprinzip, das dem „Chaos“ oder der „ungerichteten Energie“ von Menschen eine (neue) Struktur und Richtung gibt.

Das „Chaos“ oder die „ungerichtete Energie“ ist für die „Plastische Theorie“ von Joseph Beuys der Ursprungsort der Begriffe, die „Form“ aber deren Endprodukt. Auch für Deleuze und Guattari ist das „Chaos“ der Ursprungsort der Begriffe, denn dieses „Chaos“ ist für sie „ein Vakuum, das kein Nichts, sondern ein Virtuelles“ ist, und es ist für sie die Philosophie, die „dem Virtuellen Konsistenz durch Begriffe“ (Deleuze/Guattari) verleiht.

„Als Immanenzebene, die das Chaos schneidet, selektiert das philosophische Sieb unendliche Bewegungen des Denkens und stattet sie mit formierenden Begriffen als konsistenten Partikeln aus, die so schnell sind wie das Denken.“ (Deleuze/Guattari). Die Immanenzebene ist bei Deleuze und Guattari - wie bei Beuys das Denken und die Sprache - der „verschwindende Vermittler“ () zwischen „Chaos“ und „Form“ oder zwischen „Chaos“ und „Begriff“.

„Ich sage euch: man muß noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können“ (Nietzsche). Nur die Begriffe setzen die menschliche Seele in Bewegung, die „tanzende Sterne“ sind. Joseph Beuys ist wie Gilles Deleuze und Félix Guattari von Friedrich Nietzsche inspiriert.

Für einen Philosophischen Praktiker ist nicht der Begriff, sondern die Immanenzebene der Begriffe, oder das Denken und die Sprache als „verschwindende Vermittler“ zwischen „Chaos“ und „Begriff“ , das „Seelen-Werkzeug“ (Stüttgen) für die Beratung seiner Besucher , und für diese Beratung gibt es kein „anderes Kriterium, als den Gehalt der Existenz, die Intensivierung des Lebens“ (Deleuze/Guattari), also das, was Gerd B. Achenbach mit Novalis das „Vivificiren“ oder die Verlebendigung der Besucher in einer Philosophischen Praxis nennt.

Der „Emotivismus“ (MacIntyre) der Psychotherapie des 20. Jahrhunderts hat das Bewegungselement des Seelenlebens mit dem Bewegungsprinzip der menschlichen Seele verwechselt. Er hat das Bewegungselement zum Bewegungsprinzip promoviert. Dieses Bewegungselement ist für die „Plastische Theorie“ von Joseph Beuys das menschliche Fühlen.

Auf einer Postkarte von 1972 verkörpert ein Joseph Beuys, der sich in Bewegung setzt, die „Begriffsperson“, die für Deleuze und Guattari eine Verkörperung der Immanenzebene oder des Bewegungsprinzips ist. „Die Begriffspersonen...vollziehen jene Bewegungen, die die Immanenzebene des Autors beschreiben und bei der Erschaffung dieser Begriffe selbst eingreifen...Der Philosoph ist die Idiosynkrasie seiner Begriffspersonen.“ (Deleuze/Guattari).

Für den Denker Joseph Beuys ist die Begriffsperson des Denkens und der Sprache der leidempfindliche Logos oder die „Christussubstanz“, die als „Weltseele“ (Platon) im 21. Jahrhundert auf unserem Globus auch das Evolutions- oder Bewegungsprinzip für die Entwicklung des Gattungssubjekt Mensch in Richtung auf die Solidarität und die Freiheit aller Menschen ist.


Gilles Deleuze und Fèlix Guattari, zit. aus: Was ist Philosophie?, Frankfurt/Main 1996

Johannes Stüttgen, zit. aus: Zeitstau. Im Kraftfeld des Erweiterten Kunstbegriffs von Joseph Beuys, Stuttgart 1998

Joseph Beuys, „Plastische Theorie“, vgl. Zeichnung von Johannes Stüttgen, in Stüttgen, J., a.a.O., S.159

Friedrich Nietzsche, zit. aus: Schlechta, K. (Hrsg.), Nietzsche, F., Werke II, Also sprach Zarathustra, München 19766, S. 284

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